Spiritualität: der Weg zu innerer Reinheit, Freiheit und Individualität

    Spiritualität wird oft fälschlicherweise mit tiefer Religiosität gleichgesetzt. Menschen mit dieser Geisteshaltung müssen jedoch keineswegs gläubig oder gar fromm sein. Das einzige, was das Denken und Handeln aller spirituellen Menschen gleichermaßen prägt, ist die Anstrengung, die eigenen Potenziale voll auszuschöpfen und die wahre Natur des eigenen Bewusstseins zu erkennen. Dies kann durch die Anwendung spiritueller Praktiken wie Meditation oder Gebet ebenso geschehen wie in Momenten der intellektuellen Rückbesinnung auf die innere Verbundenheit mit der Welt.

    Was ist Spiritualität?

    Den Begriff Spiritualität einheitlich zu definieren fällt angesichts der unzähligen Auslegungen und praktischen Umsetzungsmöglichkeiten schwer. Das Wort leitet sich von dem lateinischen Namen „spiritus“ für „Geist“ sowie dem Verb „spirare“ für „atmen“ ab. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Begriff der Spiritualität auf verschiedene Geisteshaltungen und Sinneswahrnehmungen, die unterschiedlicher Ausprägung sein können.
    In erster Linie wird Spiritualität mit Religiosität in Zusammenhang gebracht, wobei ein spirituell denkender oder fühlender Mensch keineswegs einer etablierten Religion angehören oder die Dogmen einer kirchlichen Gemeinschaft in seinem Alltag gehorsam umsetzen muss. Spiritualität bezeichnet mehr eine Weltanschauung, die von religiösem Gedankengut geprägt sein, aber auch als individuelle Suche eines Menschen nach dem Sinn des Lebens betrachtet werden kann.

    Der Spiritualität im Allgemeinen liegt das Grundbedürfnis eines Menschen zugrunde, das irdische und überirdische Dasein zu erklären. Jeder Mensch trägt bis zu einem gewissen Grad spirituelles Gedankengut in sich, das sich in verschiedenen Auffassungen und Handlungen manifestieren kann. Spirituell geprägte Menschen stellen sich grundsätzliche Fragen über das Leben, die über das Alltägliche weit hinausgehen. Es geht in der Spiritualität nicht darum, über Tätigkeiten wie Arbeit, Nahrungsaufnahme oder Freizeitbeschäftigungen zu reflektieren, sondern um alles, was im alltäglichen Leben verborgen bleibt oder einer höheren Realität angehört.

    Historische Grundlagen der Spiritualität

    Wie bereits erwähnt, ist spirituelles Denken bis zu einem gewissen Grad Teil der menschlichen Existenz, also dem Menschen angeboren. Im geschichtlichen Kontext wird dies besonders deutlich. Bereits für unsere Vorfahren war Spiritualität ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens. Bevor sich religiöse Strömungen als allgemeingültige Leitgedanken herausbildeten, gab es im menschlichen Dasein kaum eine Trennung zwischen dem Spirituellen und der tatsächlichen Welt.

    Schon in den frühen Kulturen war es den Menschen ein Grundbedürfnis, unerklärliche Vorgänge in der Natur intuitiv einzuordnen und dadurch ein für sie zufriedenstellendes Verständnis zu formulieren. Damit ging der Wunsch einher, die eigene Existenz in Kontext mit vermeintlich unerklärlichen Phänomenen wie Wetter, biologischen Vorgängen oder Bewegungen der Himmelskörper zu stellen. Dazu dienten verschiedene spirituelle Handlungen und Haltungen, die sich in frühen Kulturen in erster Linie in Form eines mystischen und magischen Denkens manifestierten.

    Spiritualität im religiösen Sinne

    Mit der Entwicklung von Konfessionen und organisierten Glaubensgemeinschaften änderte sich die Rolle der Spiritualität. Da Menschen einer bestimmten Religion angehörten, wurde auch deren spirituelle Seite mit ihrem religiösen Glauben in direkten Zusammenhang gebracht. Dies führte dazu, dass Spiritualität lange Zeit mit dem Begriff der Frömmigkeit gleichgesetzt wurde, und dieser ist bis heute nicht unbedingt nur positiv konnotiert. Fromme Menschen werden als solche betrachtet, die die Dogmen und Vorgaben ihrer Konfession kritiklos anerkennen und im Alltagsleben umsetzen, ohne auf ihre Individualität Wert zu legen.

    Im Grunde bedeutet spirituelles Leben in religiösem Kontext vor allem, eine persönliche und direkte Beziehung zu einer Gottheit, gottähnlichen Gestalt oder einer höheren Macht aufzunehmen, ohne dass diese in der Realität erfahrbar ist. Diese Beziehung setzt in der religiösen Spiritualität einen mehr oder weniger bedingungslosen Glauben voraus, wobei dessen Ausprägung stark von der jeweiligen Konfession abhängig ist.

    Manche Weltreligionen wie der Buddhismus oder der Hinduismus sind durch ihre Grundlagen und Auslegungen der Spiritualität gegenüber deutlich offener eingestellt als beispielsweise das Christentum oder der Islam. In letzteren Glaubensrichtungen nehmen religiöse Institutionen in der Beziehung zwischen den Gläubigen und der jeweiligen Gottheit die Rolle eines Vermittlers oder einer Brücke ein. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass viele etablierte Religionen ihren Mitgliedern vorgefertigte Regeln und Rituale auferlegen, die diese als vermeintlich spirituelle Menschen auf ihr alltägliches Leben übertragen sollen.

    Gebete und Gottesdienste, die Vorstellung von Sünde und Hölle sowie eine strikte Sexualmoral, die das Familien- und Sozialleben erheblich einschränken oder sogar negativ beeinflussen kann, stehen im Gegensatz zu dem, was Spiritualität eigentlich sein sollte – nämlich die Selbsterkenntnis, also die authentische Suche nach dem Sinn des eigenen und daher einzigartigen Ichs. Das spirituelle Potenzial, das Religion per se grundsätzlich immer in sich trägt, wird daher oft ignoriert und in manchen Konfessionen sogar verboten. Da ist es nicht verwunderlich, dass viele spirituell fühlende und denkende Menschen sich einer Alternative zuwenden: der Esoterik.

    Esoterik als spiritueller Weg?

    Wer sich als spirituell interessierter Mensch aus oben genannten Gründen von der Religion abwendet, finden in der Esoterik Möglichkeiten, die in starkem Kontrast zu den strengen Vorgaben vieler Glaubensgemeinschaften stehen. In der Esoterik spielt Spiritualität scheinbar eine zentrale Rolle und findet durch die große Vielfalt an verschiedenen Ritualen auf den ersten Blick eine lebendige Entsprechung. Kartenlegen, Reinkarnation, Horoskope oder Traumdeutung bieten scheinbar unzählige Möglichkeiten, die eigene Persönlichkeitsentwicklung voranzutreiben oder große Fragen nach der irdischen und überirdischen Existenz zu formulieren und darauf Antworten zu finden.

    Auch wenn die Esoterik im Vergleich zu mancher Weltreligion durchaus in vielen Aspekten den spirituellen Interessen eines Menschen entsprechen kann, bleiben viele Grundideen dennoch wirkungslos. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich die Esoterik bei genauerem Hinsehen als undefinierter Mix aus Selbsttäuschung, jeder Grundlage entbehrenden Zukunftsvoraussagen und Sensationen ohne Inhalt entpuppt. Dadurch steht auch die Esoterik vielen Menschen mit spirituellen Ansprüchen mehr im Wege als dass sie als Inspiration und Anleitung auf einem individuellen Pfad zur Selbsterkenntnis dienen kann.

    Die Spiritualität als philosophisches Konzept

    Ein Mensch muss weder einer Glaubensgemeinschaft angehören und einer Gottheit untertan sein noch sich der Esoterik zuwenden, um spirituelle Impulse und Gedanken in das alltägliche Leben zu integrieren. Auch Atheisten und sogar Agnostiker können durchaus spirituell geprägte Gedankengänge formulieren und sich von diesen auf dem Weg zur Selbsterkenntnis leiten lassen.

    Bereits in der Antike entstanden philosophische Strömungen, die sich abseits von religiösen Auffassungen und deren Vorgaben intensiv mit den Möglichkeiten einer Suche nach dem Sinn des menschlichen Daseins auseinandersetzten. Vor allem die Epikureer und die Stoiker prägen bis heute die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und der daraus resultierenden Motivation, das irdische Dasein mit der Umsetzung ethischer Werte zu füllen. Eine kirchenferne und gleichzeitig authentische Spiritualität findet daher in der Philosophie ihre Entsprechung.

    In der Neuzeit entwickelten sich die Überlegungen der Philosophen des Altertums in Form des humanistischen Gedankenguts weiter. Auch diese philosophische Strömung hat mit spirituellen Werten, wie sie beispielsweise im Buddhismus aktiv gelebt werden, einiges gemeinsam. Der Humanismus vermag alle Menschen zu vereinen, die sich auf intellektueller und emotionaler Ebene mit alltagsbezogener Spiritualität auseinandersetzen. Er basiert auf einem Weltbild, das Gefühl und Verstand in eine harmonische Wechselwirkung stellt. Im Zentrum stehen die Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegenüber dem eigenen Ich sowie der Anspruch, Menschenrechte, Demokratie, Mitgefühl und Recht als ethische Werte in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Miteinanders zu rücken. Viele Philosophen verstehen daher den Humanismus als atheistische, weltliche oder religionsferne Spiritualität, die sich aber durchaus mit den Werten vieler etablierter Glaubensgemeinschaften vereinen ließe, wenn der Wille dazu bestünde.

    Spirituell leben – die gemeinsame harmonische Entwicklung von Ich und Selbst

    Ob mit oder ohne Gott, mit esoterischen Einflüssen oder im Sinne einer aufgeklärten Weltauffassung – Spiritualität kennt keine strengen Vorgaben und kann daher von jedem Menschen aktiv gelebt werden. Spirituell zu sein, bedeutet, Fragen zu stellen, deren Antworten dabei helfen, die eigene Identität zu definieren und diese in Beziehung zu den Mitmenschen zu stellen. Wer sich aktiv mit seiner eigenen Herkunft, seiner Rolle und seinen Aufgaben im Leben auseinandersetzt, legt den Grundstein für eine harmonische Entwicklung seines Ichs.

    Ein spiritueller Mensch hat verinnerlicht, dass er die Antworten auf die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens nur in sich selbst finden kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Zugang zur Erkenntnis über das Geistige, das aufgeklärt Intellektuelle oder das Religiöse gelegt wird. Wesentlich ist nur die individuelle Haltung eines Menschen, die sich nicht primär an der Außenwelt, sondern am eigenen Innenleben orientiert.

    Gelebte Spiritualität ist die bewusst herbeigeführte menschliche Entwicklung, die über die Ich-Werdung hinausgeht und die Selbst-Werdung zum Ziel hat. Diese Begriffe wurden von dem Schweizer Psychoanalytiker C. G. Jung erstmals formuliert. Ein Mensch, der die Ich-Werdung vollzogen hat, kennt genau seine Rolle in der Gesellschaft und hat viele seiner Pläne realisiert.

    Spiritualität kommt erst ins Spiel, wenn es um die Selbst-Werdung geht. Bei der Selbst-Werdung handelt es sich um einen Individuationsprozess, der in einem Menschen das Bewusstsein weckt, etwas Einzigartiges zu sein. Zentrale Aspekte dieser Entwicklung sind der Freiheitsanspruch und die Formulierung von Fragen nach einem individuell betrachteten höheren Sinn im Leben.

    Eng verknüpft mit dieser intellektuellen Selbstentfaltung ist das Erkennen jener Illusionen, die Glück suggerieren. Spirituelle Menschen haben realisiert, dass Glück nicht von äußeren Faktoren abhängt, sondern ausschließlich im Inneren der eigenen Persönlichkeit zu finden ist. Gelebte Spiritualität, ganz gleich, ob in religiöser oder geistiger Ausprägung, ist die Fähigkeit, über kurze Glückserlebnisse hinwegzusehen. Wer verstanden hat, dass weder Anerkennung und Erfolg, noch materieller Wohlstand oder vorübergehende Befriedigung der Begierden Glück herbeiführt, kann die rastlose Suche nach dem oberflächlichen Sinn im Leben aufgeben. An deren Stelle treten eine innere geistige Reinheit, eine dynamische Auseinandersetzung mit den eigenen Potenzialen sowie bewusst gestaltete Momente, um sich von der schnelllebigen weltlichen Ordnung immer wieder kurz abzuwenden und Ruhe zu finden.

    Spiritualität bedeutet daher in erster Linie Macht über die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen. Das Erkennen der wahren Bedürfnisse ermöglicht, nur die Dinge im Leben zuzulassen, die wirklich und nachhaltig glücklich machen. Gleichzeitig besitzt ein spiritueller Mensch auch die Fähigkeit, reine Liebe zu empfinden. Er setzt sich fortwährend und intensiv mit allen Beziehungen zu seinen Mitmenschen auseinander. Spiritualität kann jedoch auch im respektvollen Umgang mit der Natur ihre Entsprechung finden.

    Ob die spirituelle Selbst-Werdung an Meditation, magische Rituale, religiöse Bräuche oder intellektuelle Selbstgespräche geknüpft ist, hat letztlich keine große Bedeutung und ist nur Frage der individuellen Vorlieben und Interessen. Entscheidend ist nur, stets offen zu bleiben für all die kleinen Dinge, die im Alltag mit bloßem Augen nicht offensichtlich erkennbar und dennoch in der Lage sind, das Bewusstsein zu erweitern oder zu transformieren.

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